Betreutes Einzelwohnen für Menschen mit geistiger Behinderung im Tiele-Winckler-Haus

Erstellt von Susanne Bürkle |

Impressionen vom Start bis heute - oder wie ein Wunsch zur Wirklichkeit wurde.

Berlin. Mit Frau Groß* fängt alles an. Zu Beginn der 1990er Jahre ist sie Anfang fünfzig und hat eine Vision. Sie möchte ein „ganz normales“ Leben führen. Sie möchte in eine eigene Wohnung ziehen und sie hat den Wunsch zu heiraten. Frau Groß lernt in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung einen netten Mann kennen. Bald ist den beiden klar, dass sie ihr Leben zusammen verbringen möchten. Aber da gibt es Bedenken von allen Seiten. Eine Frau mit einer geistigen Behinderung, die in einem Wohnheim der Tiele-Winckler-Haus GmbH lebt, dort rund um die Uhr betreut wird, soll ihr Leben nun alleine bewältigen können? Mit Hilfe von Helena Scherer, TWH-Regionalleitung und Birgit Lyongrün, Leitung des Wohnheims Friedenau, erfüllt sich der Traum. Im Herbst 1993 zieht Frau Groß zu ihrem Partner, den sie ein Jahr später heiratet.

Mit dem Auszug von Frau Groß ist im Tiele-Winckler-Haus das Betreute Einzelwohnen geboren. Sie wird jetzt nicht mehr im Wohnheim in Friedenau betreut, sondern stundenweise in der eigenen Wohnung. Von ihrem neuen Leben ist sie begeistert. Und andere Frauen, die mit ihr zuvor im Wohnheim in Friedenau gelebt haben, nehmen sich an Frau Groß ein Beispiel. Bald wird munter ausgezogen: In die eigene Wohnung, in Wohngemeinschaften, alleine oder zusammen mit einem Partner oder einer Partnerin. Zum Glück ist es in jener Zeit kurz nach der Wende noch einfach, in Berlin eine Wohnung zu finden. Das gelingt auch Menschen, die normalerweise kaum eine Chance auf eine Wohnung hätten, zum Beispiel Herrn Hellwig*. Er ist damals Mitte fünfzig, war jahrzehntelang in der forensischen Abteilung der Psychiatrie untergebracht und wurde dann mangels anderer Möglichkeiten in einem Pflegeheim versorgt. Auch er hat den Traum von einer eigenen Wohnung nie aufgegeben. Sein Verhalten ist aber so auffällig, dass auch ich nach unserem ersten Kennenlernen nicht sicher war, ob er überhaupt in einer ganz „normalen“ Nachbarschaft klar kommen würde. Seinen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen, als er den Schlüssel für seine erste eigene Wohnung in Charlottenburg entgegennimmt. Anfangs gibt es ein paar Katastrophen, unter anderem wollte er Kartoffeln ohne Wasser kochen, was fast die Feuerwehr auf den Plan gerufen hätte. Aber Herrn Hellwig gelingt das selbständige Leben zunehmend besser, auch mit den Nachbarn kommt er sehr gut klar.

Auch jüngere Menschen bewerben sich jetzt bei uns für das Betreute Einzelwohnen. Mit steigender Zahl werden auch mehr Mitarbeitende benötigt. Ein Büro wird angemietet und wir bieten einen gemeinsamen Treffpunkt. Wir verreisen als Gruppe und gestalten die Jahresfeste. Dies schätzen viele der betreuten Menschen sehr, da ihnen oft familiäre Bezüge und damit soziale Kontakte fehlen. Für einige, die wir inzwischen über viele Jahre betreuen, sind wir als Mitarbeitende im Tiele-Winckler-Haus ein Familienersatz. So schön ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung ist, die Kehrseite heißt oft Einsamkeit. Dagegen helfen die gemeinsamen Aktionen. Eine besonders schöne Aktion war  die nächtliche Brückenfahrt mit festlichem Dinner im letzten Sommer. Die Fahrt hätten sich die Menschen, die wir betreuen, niemals leisten können. Möglich war das durch den Spendenaufruf im Hausmagazin "Das Friedenshortwerk". Noch immer schwärmen alle von dem tollen Abend. Daher an dieser Stelle nochmal herzlichen Dank.

Manchmal stößt man an Grenzen

Heute sollen alle Menschen mit Behinderung so leben können, wie sie sich das vorstellen und die Hilfe erhalten, die sie benötigen. Leider stößt dies an Grenzen. Bezahlbarer Wohnraum in Berlin ist Mangelware und oft ist es schwierig, die notwendigen Betreuungsstunden über einen längeren Zeitraum bewilligt zu bekommen. Vor allem junge Männer tun sich schwer damit, ihren Alltag zu strukturieren. Sie haben nie gelernt zu arbeiten. Der Anreiz, dies in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen zu tun, ist nicht vorhanden. Sie fühlen sich dort unterfordert. Eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt überfordert sie jedoch. Trotz allem Einsatz der Mitarbeitenden gibt es daher Rückschläge, zum Beispiel, wenn eine Wohnung aufgegeben werden muss oder Anzeichen deutlich werden, dass jemand allein nicht zurechtkommt. Dann könnte man resignieren. Aber wenn wir bei Neuanfragen bei den Menschen nachhören, heißt es auf die Frage „Wie wollt ihr leben?“ zumeist: „Ganz normal, wie alle anderen Menschen auch.“ Darin unterstützen wir sie so gut es geht. Und Frau Groß? Sie lebt 75-jährig noch immer in ihrer Wohnung. Leider ist ihr Mann verstorben. Neben unseren Mitarbeitenden kümmern sich die Kollegen aus der Altenpflege einer Sozialstation um sie. So lange es geht, möchte sie in ihrer Wohnung allein zurechtkommen. (*Namen geändert)

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