Wie der Friedenshort entstand

Schloss Miechowitz in Oberschlesien war der Stammsitz der von Tiele-Wincklers. Als Unternehmer im Bergbau zur führenden Schicht der Großindustriellen aufgestiegen, zählt die Adelsfamilie seinerzeit zu den vermögendsten des Deutschen Reiches. Eva von Tiele-Winckler wird 1866 als achtes von neun Kindern ihrer Eltern Valeska und Hubert von Tiele-Winckler geboren. Die Eltern prägen sie auf unterschiedliche Weise. Der Vater streng und stets auf Disziplin bedacht, verlangt Selbstbeherrschung. Ihre Mutter wird als äußerst liebevoll und gütig beschrieben und von einer starken Frömmigkeit geprägt. Sie regt ihre Kinder schon früh dazu an, anderen Menschen Gutes zu tun.

Die junge Eva von Tiele-Winckler wächst im Schloss jedoch so abgeschirmt auf, dass sie kaum etwas von dem wirklichen Elend ihrer Heimat ahnt. Lediglich die rauchenden Schornsteine der zahlreichen Bergwerke kann sie vom Schlossgebäude aus sehen. Die Schwerindustrie hat das Leben der Menschen grundlegend verändert. Der Alltag ist geprägt von Hunger, Krankheit und Alkoholsucht.  Die Bergleute leisten Schwerstarbeit, sogar Schulkinder müssen in den Gruben mithelfen. Viele sterben früh, einen Arzt gibt es nicht im Ort.

Zur tätigen Nächstenliebe berufen

Als Eva 13 Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter. „Es war der erste tiefe Schmerz. Mit ihr ging für mich die Sonne unter“, schreibt Eva von Tiele-Winckler in ihrem Buch Nichts unmöglich. Es vergehen Jahre, in denen sie nach eigener Darstellung ohne Ziel und Aufgabe ist, einsame Tage im großen Schloss verbringt oder sich in die Bücher ihrer Mutter flüchtet. Mit 16 Jahren stößt sie im Konfirmandenunterricht auf die Bibelstelle in Joh. 10 über den Guten Hirten. Sie erkennt: Diesem guten Hirten kann und möchte sie ihr Leben anvertrauen. Gleichzeitig öffnet Gott der jungen Eva den Blick für ihre Umgebung. Er macht ihr das unvorstellbare Elend des Volkes ihrer oberschlesischen Heimat sichtbar. „Da war meine Aufgabe!“, weiß sie nun.

Am liebsten möchte die 17-jährige Eva sofort losziehen, um den Menschen im Dorf zu helfen, doch sie weiß, dass es der Vater nicht erlaubt hätte. So bleibt die Armenspeisung im Schloss zunächst die einzige Möglichkeit, mit hilfsbedürftigen Menschen in Kontakt zu treten. Auf einer Reise lernt sie 1885 das diakonische Werk Bethel und Pastor von Bodelschwingh kennen. Seine Persönlichkeit und Arbeit beeindrucken sie tief und festigen ihren Wunsch, ihr Leben der tätigen Nächstenliebe zu widmen. Auch ihr Vater sieht ein, dass allein die Erfüllung dieses Wunsches seine Tochter glücklich machen würde. Er steht dem Vorhaben Evas nicht länger entgegen und fordert seine Tochter zu einer schriftlichen Fixie­rung ihrer Pläne auf: Zunächst möchte sie intensiv die Kranken- und Gemeindepflege erlernen und dann eine kleine Wirkungs­stätte in Miechowitz gründen.

Ende März 1887 beginnt Eva ihre Ausbildung in Bethel. Als sie zurückkehrt, erlaubt ihr der Vater, die Menschen im Dorf zu versorgen. Im Schloss lässt er ihr zudem eine Krankenstube und einen Raum für Kinder einrichten, denen sie nach der Schule das Handarbeiten beibringt. „In diesen Räumen begann eigentlich schon der Friedenshort, obgleich sie damals auf Wunsch meines Vaters den Namen Eva-Heim trugen“, notiert sie in Wie der Friedenshort entstand. Das kommende Weihnachtsfest hält für sie eine ganz besondere Überraschung bereit...

Mutter Evas Glaube führt zu diakonischem Handeln

Der Vater schenkt ihr den Bauplan eines Hauses, das zu ihrer Wirkungsstätte unweit des Schlosses werden soll. „Was ich in diesem Augenblick empfand, lässt sich nicht beschreiben. Mein lieber, lieber Vater. So erfüllte er die Wünsche seines Kindes und lächelnd freute er sich an meinem Glück“, schreibt sie rückblickend. Ein Jahr später ist das Gebäude fertig und wird am 29. September 1890 seiner Bestimmung übergeben: „Draußen versammelte sich eine große Volksmenge und dann übergab mir mein Vater den Schlüssel des Hauses, mit dem ich im Namen des dreieinigen Gottes die Tür öffnete. Nun ging‘s hinauf in die Kapelle zum Weihegottesdienst, an dem ich zugleich als Hausmutter vor dem Altar eingesegnet wurde.“ Eines liegt Eva von Tiele-Winckler den ganzen Tag über jedoch schwer auf dem Herzen. Ihr Vater hatte angeordnet, dass sie als „Vorstandsdame“ nur tagsüber im Friedenshort arbeiten und abends zurück ins Schloss kommen solle. Ihr Vater spürt jedoch, dass seine Tochter nicht vollends glücklich ist und willigt mit Wehmut noch am selben Abend in ihren Auszug aus dem elterlichen Schloss ein. Für Eva gibt es daraufhin kein Halten mehr: „Rasch lief ich in meine Schlafstube, rollte Kopfkissen und Bettdecke zusammen und lief im Trab vom Schloss bis zu meinem Haus, nicht eher anhaltend, bis ich in meinem Stübchen angekommen war“, schreibt sie.

Schon bald wird es recht eng im ersten Haus Friedenshort, denn sie kommen zahlreich: Alte, kranke und pflegebedürftige Menschen, Kinder ohne Heimat oder aus Familien, deren Armut zu groß geworden ist, um sie versorgen zu können. Im Frühjahr 1892 besucht Pastor Bodelschwingh den Friedenshort und regt die Gründung einer eigenen Schwesternschaft an. Auf der sogenannten Osterinsel, einem Rückzugsort Evas im Park des neuen Familienwohnsitzes Schloss Moschen, fasst sie den Entschluss, seinem Rat zu folgen. Wenige Monate später werden die ersten Probeschwestern eingesegnet. Zeitgleich werden zwei neue Gebäude bezogen: Im „Schwalbennest“ können nun Kinder und im Valeska-Stift alte und kranke Menschen untergebracht werden.

Heimat für Heimatlose

Zeitsprung ins Jahr 1909. Die Kapazitäten des Friedenshortes sind erschöpft, da die Anfragen zur Aufnahme notleidender und heimatloser Kinder immer zahlreicher werden. Aber nicht nur räumlich, sondern auch finanziell sind Grenzen erreicht, da Mutter Eva – so wird sie seit einiger Zeit genannt – das ihr zur Verfügung stehende Vermögen vollständig in die Diakonie des Friedenshortes investiert hat. Aber sie ist keineswegs mutlos, wie ein Tagebucheintrag zu Weihnachten 1909 zeigt: »Es wird mir immer gewisser, dass Gott noch Größeres tun wird. Er legt das Kinderelend mit Macht auf mein Herz. […] Die Umrisse werden deutlicher, ich sehe immer klarer, was Gott will: Heimat für Heimatlose! Alle Dinge sind möglich bei Gott!«

Gottes Führung zeigt den weiteren Weg auf. Ein Breslauer Großkaufmann – ihn hat das von Mutter Eva publizierte Gedicht »Heimat für Heimatlose« sehr beeindruckt – stellt im April 1910 ein geeignetes Haus für die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen auf dem Warteberg bei Breslau zur Verfügung. Bereits im Mai 1910 ziehen Diakonissen und Kinder in diese erste Kinderheimat der »Heimat für Heimatlose« ein.

Von Christina Hohmann und Henning Siebel