Kunst als gelebte Inklusion

Erstellt von Gerd Langmuth (Musiker und Fachautor) |

Eine Kritik zum eindrucksvollen Musiktheaterstück „Im Rahmen des Möglichen“ der Tiele-Winckler-Haus GmbH.

Gerade zeitgenössische Kunstformen, die explizit „das Verrückte“ normal und stark sein lassen, können in besonderer Weise Inklusion erfahrbar machen, das war mir klar. Ein Theaterstück, gespielt von Menschen mit Behinderungen, könnte hingegen aber schnell auch zum Kuriositätenkabinett verkommen. Darüber pulsieren die Gedanken des Berichterstatters über ein höchst eindrucksvolles Musiktheatererlebnis am 2. November 2014. „Im Rahmen des Möglichen“, aufgeführt von Menschen mit und ohne Behinderung in Neuköllns Idyll des „Kulturstalls“ im Gelände vom Schloss Britz. In einer beispielhaften Zusammenarbeit der Musikschule Paul Hindemith Neukölln mit dem Tiele-Winkler-Haus brachte die Regisseurin Marieke Rügert mit ihren Helfern Famoses zu Stande. Finanziell unterstützt wurde das Projekt durch die „Aktion Mensch.“

Rahmen überall. Die schwarze Bühne ist voll gehängt mit übergroßen und kleineren farbigen Holzrahmen in verschiedenen Ebenen der Tiefe, die sich zeitweise baumelnd bewegen. Dazwischen agieren Darsteller in schwarzen T-Shirts mit aufgeklebten einfarbigen rechteckigen Winkeln, oft kleine Holzrahmen in der Hand tragend. Das alles wirkt eng verzahnt, Eindruck machend, rein optisch schon, wie ein eigenes faszinierendes, sich ständig wandelndes abstraktes Bild (Kostüme/Bühnenbild: Angela Zohlen/Ulrich Kretschmann). Das Stück selbst dann ist eine Collage von scheinbar zusammenhanglosen Szenen, in denen es um Alltagsereignisse wie Frühstücken, stupides Arbeiten in der Werkstatt, eine Straßenüberquerung ebenso geht wie in anderen Kapiteln um Tod, das Verrücktsein oder eine verblüffend realistisch nachgespielte Geburt. Daneben stehen Performances wie der Vortrag von Liedern, Gedichten und Tänzen verschiedener Stilrichtung vom Hip-Hop bis zur unendlich eindrucksvoll gelungenen Berührung zwischen einer spastisch Gelähmten und der Regisseurin zu verwunschen klingender Kammermusik. Jede Aktion findet umgeben von Rahmen statt. Rahmen werden als Spielobjekte benutzt, man putzt sich mit ihnen die Zähne, rasiert sich damit, erzeugt ein Porträt mit heraus gestreckter Zunge, mäht den Rasen, lässt sich vom rechtwinkligen Joch gefangen nehmen.

Diese nahezu dadaistische Konstellation von Akten und Aktionen erscheint dem Zuschauer stets seltsam schlüssig und sinnreich verwoben – durch das Medium Musik. Im Orchester am Rande vor der Bühne sitzen acht Musiker, zum Teil mit Behinderungen, an verschiedenen Instrumenten. Es erklingt poppige, volkstümliche und rockige Musik, die allezeit ihre passende akustische Rolle spielt und die Darsteller zu allerlei veranlasst. Ein Werk jedoch bildet sozusagen das Amalgam, ist der Klebstoff, eben der rote Faden zwischen Tod und Tanz: Katia Tchemberdjis OKNA für Flöte und Akkordeon, ein Werk der Neuen Musik, das in großen und kleineren Ausschnitten gespielt Gedichte unterstreicht, offene Umbauten forciert, Stimmungen fokussiert wie es sonst nur das Licht vermag. 

Taucht ein neuer Darsteller auf der Bühne auf, wird er durch kurze, zum Teil verfremdete vom Band zugespielte Interviews vorgestellt und befindet sich damit sogleich ganz nahe der Herzen der Zuschauer.
Die durchweg fantastischen Akteure fühlen sich offensichtlich wohl. Und das gilt für die Jugendtheatergruppe wie für die größtenteils älteren erwachsenen Menschen mit Behinderung gleichermaßen. Angesichts der Altersspanne von 13 bis rund 70 Jahren leistet das Projekt auch für die Generationenzusammenführung Vorbildliches. 

Rührend und Mitreißend

Das sehr zahlreiche Publikum im fast vollständig gefüllten Saal amüsierte sich, hatte Tränen der Rührung im Auge, ließ sich mitreißen von den Aktiven auf der Bühne, war fasziniert von den Leistungen der zum Teil schwer beeinträchtigten Menschen, überrascht vom nächsten Ereignis. Es verlieh am Ende einhellig lautstark und minutenlang seiner Begeisterung Ausdruck. Tatsächlich entstand nicht einmal eine Sekunde das Gefühl, hier würden Menschen mit ihren Handicaps vorgeführt oder benutzt für ein abgehobenes Kunstprojekt. Und doch war es das, ein vom Alltag weit abgehobenes Kunstprojekt, ein hochrangiges Projekt, genau dort zu verorten, wo bestes Theater wohnt. Es gab so viel zu erleben wie sonst in einem großen Drama, das sich gepaart hat mit effektvoller Komödie: Spaßiges, Anrührendes, Mitreißendes, Herzerwärmendes, Tiefsinniges, Tragisches. 

Für den Kritiker steht fest, dass er lange nicht so gut gemachtes und kunstvoll erdachtes Laientheater gesehen hat. Wer hier behindert war und wie und wer nicht, das spielte tatsächlich keine Rolle, jeder spielte seinen Part mit Haut und Haaren, mit einer enormen Intensität. Lediglich jene Momente, in denen ein 13-jähriger Junge und die 15 und 16 Jahre alten Mädchen aus der Jugendtheatertruppe der Musikschule den älteren Erwachsenen aus dem Tiele-Winckler-Haus zeigten, wo sie sich richtigerweise hinstellen müssen, damit sie ihre Kunst im richtigen Rahmen darboten, offenbarte Unterschiede der Wahrnehmungsebenen. Wie liebenswert fürsorglich, zugleich jedoch unaufdringlich und klar sie das dann aber machten, war eine eigene starke Szene am Rande eines wunderbaren Musiktheatererlebnisses. Wunderbar, weil so furchtbar normal wie man es doch leider selten hat. Und das für alle Anwesenden. Umarmung!

 

Zurück