Inklusion bleibt ein Prozess, für den es kein Patentrezept gibt

Erstellt von Henning Siebel |

Leitende Mitarbeitende der Stiftung Diakonissenhaus Friedenshort und ihrer Tochtergesellschaften traf sich in Heiligengrabe, um sich über das vielschichtige Thema fachlich auszutauschen.

Zum zweiten Mal nach 2011 hat sich die Tagung leitender Mitarbeiter der Stiftung Diakonissenhaus Friedenshort und ihrer Tochtergesellschaften ausführlich dem Thema Inklusion gewidmet. Dabei wurde in den Vorträgen der Referenten und den intensiv geführten Diskussionsrunden deutlich: Es gibt keine einfachen Lösungen, es bleibt ein vielschichtiges Thema – aber der Prozess ist auch im Friedenshort in vollem Gang. Die drei gemeinsamen Tage zeigten: Nur eine ganzheitliche Betrachtung wird einer Verwirklichung von Inklusion gerecht und Formalismus sowie „am grünen Tisch“ verordnete Vorgehensweisen sind nicht zielführend.

Leitender Theologe Pfr. Leonhard Gronbach begrüßte die Teilnehmenden der Tagung, die diesmal in Rheinsberg und am letzten Tag in Heiligengrabe stattfand. „Gedanken zur Inklusion aus biblisch-diakonischer Sicht“, so lautete das Thema seines Eingangsreferats. Bereits die Schöpfungsgeschichte beschreibe eine inklusive Vielfalt von Anbeginn, führte Pfr. Gronbach aus. In ihrer Unterschiedlichkeit und zugleich ihrem Aufeinander-Angewiesen-Sein stellten die Menschen Gottes Ebenbild dar. Ein starkes Argument zum gebotenen Umgang mit Menschen, die eine Behinderung haben oder sozial benachteiligt sind liefere bereits das 3. Buch Mose im 19. Kapitel mit Sätzen unabdingbaren Rechts. Hier werde deutlich, dass diese Menschen nicht ausgegrenzt werden dürften und ihre Behinderung keinesfalls auszunutzen sei. Allerdings werde in weiteren Versen auch über die Abgrenzung zu Gewalttätern berichtet oder zu Menschen, die ihren Körper verletzen: „Alles in allem finden wir hier ein frühes Beispiel einer inkludierenden Gemeinschaft, die allerdings auch auf Exklusion gegründet ist“, so Pfr. Gronbach.

Mit Blick auf die biblischen Heilungsgeschichten setzte Pfr. Gronbach seine Ausführungen fort. Hier zeige sich, dass die Heilung von Menschen zumeist mit dem Heilen unheiler Strukturen in der Gesellschaft verbunden sei. Allerdings nicht in jedem Fall, wie die Heilung des Gelähmten am See Bethesda zeige, der Jesus später an die Tempelpolizei verrät und den Beginn von Jesu Passion markiere. Pfr. Gronbach: „Dem Grunde nach konterkariert diese Begebenheit alle diakonischen und kirchlichen Utopien von Zusammenhalt und gleichen Interessen aller Benachteiligten.“ Zum Schluss seiner Ausführungen stellte Pfr. Gronbach die Frage nach Jesus Christus als „inkludierendem Erlöser“. Sein Handeln münde in seine eigene Selbst-Exklusion aus der Sphäre Gottes an Karfreitag: „Die Sichtbarwerdung Gottes in einem Menschen schließt die Versehrung Gottes mit ein.“ Das Ostergeschehen bedeute dann einen Paradigmenwechsel, denn der aus der Gemeinschaft Ausgestoßene werde zur Mitte einer neuen Gemeinschaft von Christen. Dies bedeute eine neue Lesart der Texte des Alten Testaments: „Wer sich am verworfenen und exkludierten Eckstein Jesus orientiert, wird durch ihn in die Gemeinschaft der Geheiligten inkludiert.“ Mit Blick auf behinderte Menschen heiße dies, sie nicht an irgendeine Norm anzupassen, sondern sie in die Lebensfülle Gottes mit aufzunehmen.

Keine Patentrezepte

„Denkanstöße, aber keine Patentrezepte“ lieferte nach eigener Aussage Susanne Rabe als nachfolgende Referentin zum Thema „Inklusion und Schule.“ Sie verantwortet bei den Samariteranstalten Fürstenwalde die Förderschulen mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung. Die Herausforderung inklusiver Bildung sei, dass sich dabei das Bildungssystem an dem Lernenden orientiere müsse und nicht umgekehrt. Dies gestalte sich angesichts des in Deutschland sehr ausgeprägten Systems von Regelschulen und Förderschulen nicht einfach. Laut einer aktuellen Inklusionsstudie der Bertelsmann-Stiftung sei der Anteil von Schülern mit Förderbedarf in den letzten Jahren angestiegen, wie die Referentin ausführte. Dabei sei interessant, dass sich der Anteil inklusiver Beschulung in den letzten Jahren gesteigert habe, jedoch trotzdem die Schülerzahlen in den Förderschulen fast gleichgeblieben seien: „Offenbar werden beide Systeme von den Eltern angewählt, der Staat wird sich aber nicht leisten können, beide im gleichen Umfang aufrechtzuerhalten.“ Ein gutes Setting für inklusives Beschulen sei nur mit einer Sozialraumorientierung möglich. „Dies können die Lehrer nicht alleine leisten“, so die Referentin. Sonderpädagogische Kompetenz an die allgemeinbildenden Schulen zu bringen, kommunale Kinder- und Jugendarbeit mit einzubinden, sei vonnöten: „Aber ich kann nur empfehlen, Inklusion als Prozess zu betrachten, dies kann man nicht von oben aufstülpen.“ 

Einen Blick auf die Schullandschaft in Baden-Württemberg vor dem Hintergrund inklusiver Bildung warfen Regionalleiter Jürgen Grajer und Jörg Wartenberg, Sonderschulrektor der Tiele-Winckler-Schule. Mit einer anstehenden Schulgesetzänderung werde ab 2015/16 die Sonderschulpflicht abgeschafft, der Besuch der allgemeinbildenden Schule zum Regelfall. Zwar solle es weiterhin ein Elternwahlrecht geben, aber das werde faktisch durch das tatsächliche Angebot des jeweiligen Schulamts eingegrenzt. In der Sonderpädagogik als Fachwissenschaft gebe es zwei unterschiedliche Ansätze, wie Kinder mit zusätzlichem Förderbedarf am besten betreut werden könnten: In einer allgemeinbildenden Schule mit zusätzlichen Fachkräften oder in einer Sonderschule, weil dort passgenauer gearbeitet werden könne. 

„Kinder mit emotionalen Notlagen“

Für seine eigene Schule stellte Wartenberg fest, dass „wir nicht gerade ein inklusionsfreudiges Klientel haben, sondern Systemsprenger, also Kinder mit emotionalen Notlagen, die mit diversen Alltagssituationen nicht klarkommen.“ Wartenberg skizzierte die Besonderheiten der Tiele-Winckler-Schule in Öhringen, bevor er aus seiner Sicht einige Faktoren benannte, die zur Verwirklichung von Inklusion beitragen könnten. Wartenberg: „Inklusion gelingt über Köpfe und Herzen, nicht mit Paragrafen.“ Darüber hinaus sei eine ganzheitliche Betrachtung elementar und eine ausreichende Finanzausstattung, die vor allem in fachlich gutes Personal investiert werden sollte. Sonderpädagogische Fachkompetenz werde aber in jedem Fall auch weiterhin benötigt.

„Inklusion als Herausforderung für soziale Organisationen“ war das Thema von Thomas Bretschneider, Vorstand des Martinsclub Bremen e.V. In seinem weit reichenden Ansatz plädierte er dafür, sämtliche Organisationsstrukturen konsequent an den jeweiligen Sozialräumen auszurichten. „Dies darf aber nicht mit einer Dezentralisierung verwechselt werden“, betonte Bretschneider. Als Elemente nannte er: Neue Steuerungsmodelle im Management, Personal mit multiprofessioneller Kompetenz, Entwicklung von Leistungen, die nicht mehr auf eine konkrete Zielgruppe fokussiert sind, sondern die Bedürfnisse innerhalb des Sozialraums berücksichtigen sowie ein gutes Qualitätsmanagement.

Inklusion als Herausforderung für das Zusammenleben, den Sozialraum, die Mitarbeitenden und die Organisation waren die Leitthemen für einzelne Diskussionsforen, deren Ergebnisse dann in großer Runde in einem so genannten World-Café diskutiert wurden. Die Diskussionen waren intensiv und die Anschauungen durchaus unterschiedlich. Es zeigte sich: Es gibt keine einfachen und eindeutigen Antworten zur Frage der Inklusion, aber sie ist eine Herausforderung, der wir uns gerne stellen.

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