„Wer weiß das schon?“

Jugendliche aus der Einrichtung Tostedt präsentierte selbst geschriebenen Text vor Publikum

Tostedt. Gedichte oder Geschichten zu verfassen, ist ein kreativer und spannender Weg, den Gedanken und der Fantasie freien Lauf zu lassen. Sie zu schreiben ist eine Sache, sie vor einem Publikum vorzutragen, etwas ganz Anderes. Dazu gehört eine große Portion Mut und Selbstbewusstsein. Genau das hat eine Jugendliche aus der Einrichtung Tostedt der Evangelischen Jugendhilfe Friedenshort mit Bravour bewiesen. Ohne Scheu trug sie ihre eigens geschriebenen Verse bei einem „Poetry Slam“ („Dichter-Wettstreit“, bei dem die selbst verfassten Texte in einer vorgegebenen Zeitspanne präsentiert werden) auf einer Schulveranstaltung und beim Sommerfest der Einrichtung vor. Dafür erntete sie beide Male tosenden Applaus. 

Nach einer das Publikum animierenden Einleitung begann sie, ihren nachdenklichen Text zu lesen:


"Wer weiß das schon?

Ist am Anfang der Lebenszeit schon bestimmt, wie das Leben verläuft?
Ist bei der Geburt bereits bestimmt, wann man stirbt? 
Dürfen wir selbst über unser Leben entscheiden?
Schließlich wurde schon entschieden, dass man geboren wird.
Wer hat das entschieden?
Über meinen Kopf hinweg? Etwa Gott oder doch die Natur? Wer weiß das schon?

Ist der Lauf des Lebens Schicksal oder Eigenverantwortung?
Oder ist es doch wie in einer Abfolge in einem schon geschriebenen Buch?
Es wird jetzt wahrscheinlich verrückt klingen, aber… naja es gibt eine Stimme… wir hören sie alle und wir verurteilen andere Leute, die sagen, dass sie Stimmen hören, als Verrückte und sperren sie ein. 
Aber diese Stimme ist in unserem Kopf und jeder von euch hört sie. 
Naja, ist diese kleine Stimme in unserem Kopf das Engelchen und Teufelchen, die uns zu guten und schlechten Taten verleitet, die uns aber letztendlich durchs Leben bringen? 
Oder lenkt uns das Gewissen in die „richtige“ Richtung?
Natürlich die Richtung, die für uns schon längst bestimmt wurde?!
Einige nehmen das wahrscheinlich grade ernst und denken darüber nach, was ich sage… jaja ich sehe das in euren Gesichtern.
Die sich Gedanken machen, denken wahrscheinlich: „Ja das ist schön, was sie sagt, und ja ich sollte mir Gedanken darüber machen.“ 
Schließlich leben wir alle! Naja, andere denken: „'Alter Falter', was labert die hier ...?“

[...] Kann man das Leben richtig oder falsch leben? Und… was ist denn der eigentliche Sinn des Lebens? 
Ist es, glücklich zu sein und ein glückliches Leben zu haben? 
Ist es, ein guter Mensch zu sein? Ist es, viel Vermögen zu besitzen?
Ist es, Macht zu haben? 
Oder ist der Sinn, einfach nur zu leben? Wer weiß das schon?

Wissen es deine Eltern? – Vergiss es! Ich sage nur Pubertät, da werden die Eltern immer so schwierig!
Wissen es deine Freunde? – Denk nicht mal dran, die denken nicht anders als du! 
Wissen es deine Lehrer? – Keine Chance, die tun nur so, als hätten sie Ahnung und dafür werden sie sogar bezahlt! 
Wissen es die Politiker? – Haha…damit will ich gar nicht anfangen! 

Aber ist es nicht so, dass der Sinn des Lebens die Besonderheit eines Menschen, jeder Person ist? 
Schließlich ist jeder Mensch ein Individuum.

Jeder hat seine persönliche Vorstellung von Glück, Liebe, Freunde, Familie und Gerechtigkeit.
Wieso sollte es also bei der Hinterfragung des Lebenssinnes anders sein?

Aber ist es uns überlassen, ob wir ein „schönes“ Leben leben können? Wissen wir selbst gut genug, was uns glücklich macht?
Oder ist das alles nur oberflächlich?

Vielleicht machen wir uns selbst nur was vor, so wie wir auch anderen Menschen was vor machen. 
Wenn wir etwas sagen, es allerdings nicht so meinen, nur um den anderen glücklich zu machen.
Wenn wir etwas tun, es allerdings nicht wollen, nur um den anderen glücklich zu machen.
Wenn wir etwas denken, es genauso meinen, es allerdings nicht sagen, damit der andere nicht verletzt wird.
Wer weiß das schon? Sind das Ängste, die wir haben?

Die Angst, durch Ehrlichkeit von der Gemeinschaft abgestoßen zu werden?
Die Angst, durch Ehrlichkeit allein da zu stehen und nichts zu haben? Die Angst, durch Ehrlichkeit niemanden zu finden, der einen Lebensweg mit dir geht? 
Oder ist es doch nur die Angst vor uns selbst?  
Die Angst, uns selbst zu enttäuschen?
Oder die Angst, uns Grenzen zu setzten? 
Die Angst, dass das Leben an einem vorbeizieht? 
Wer weiß das schon?

Die Angst führt uns zu unseren Geheimnissen. 
Wieso haben wir Geheimnisse? 
Etwa um ein beschämendes Gefühl zu vermeiden?
Oder um interessanter zu sein? Oder vielleicht, um sich selbst treu zu bleiben? Wer weiß das schon?

Wer weiß schon die Antwort auf all die Fragen? 
Auf all die Fragen, die die Menschen sich Tag für Tag stellen?

Niemand weiß es, obwohl jeder die Antwort kennt. Es ist keine Antwort, wie bei einer Rechenaufgabe, bei der es nur die eine richtige Lösung gibt. Jeder hat seine eigene richtige Antwort.

Und Leute, ihr seid jung und lebendig, riskiert was, aber übertreibt es nicht! Und lebt euer Leben, jeden Tag eures Lebens so, als wäre es euer letzter!“

Zurück