Noch erhebliche Anstrengungen nötig – Leitende Mitarbeitende des Friedenshortes beleuchteten Bedeutung und Facetten von Inklusion

Erstellt von Henning Siebel |

Bei der Tagung in Berlin Anfang September wurde deutlich: Neue Sichtweisen, neue Strukturen und neue politische Rahmenbedingungen sind nötig.

Berlin. Nicht nur im Bereich der sozialen Arbeit ist Inklusion seit geraumer Zeit ein viel diskutierter und hochaktueller Begriff. Er ist beispielsweise auch Kern der „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung“. Grund genug, Inklusion in den Mittelpunkt der diesjährigen Tagung leitender Mitarbeiter des Friedenshortes und seiner Tochtergesellschaften Anfang September in Berlin zu stellen. Denn gerade die Vielschichtigkeit der Arbeitsfelder im Friedenshortwerk erlaubte es, sich Inklusion aus sehr verschiedenen Blickrichtungen zu nähern.

Aus dem diakonischen Blickwinkel heraus betrachtete Pfr. Leonhard Gronbach, Leitender Theologe der Stiftung Diakonissenhaus Friedenshort, bei seiner Begrüßung den Begriff der Inklusion. Ausgehend vom Wochenspruch aus Matth. 25, 40 (Christus spricht:„Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“) galt es für das Plenum zunächst, ein „Bilder-Rätsel“ zu lösen, das – wie sich zeigte – zu den „sieben Werken der Barmherzigkeit“ führte. „Diese Werke haben zwar heute zum Teil ein anderes Gesicht, bilden aber dennoch die Grundsätze für Diakonie“, so Pfr. Gronbach. Er verdeutliche wie Jesus Christus Diakonie vorgelebt hat, wie er angerührt von der Not der Menschen, diese Not zu seiner eigenen Not gemacht hat. „Und heute braucht Gott uns mittendrin, braucht uns für die Not der anderen“, verdeutlichte Pfr. Gronbach noch einmal den diakonischen Auftrag. Es gelte achtsam und sorgsam zu sein, zu hören wo man selbst gemeint ist und dabei nicht zuerst nach dem Nutzen zu fragen. Denn Nächstenliebe bilde ein wesentliches Mittel für Inklusion.

Definition von Behinderungen erweitert

In ihrem Einführungsvortrag ging Helena Scherer, Regionalleiterin der Tiele-Winckler-Haus GmbH, ausführlich auf die „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ ein. „Die Definition von Behinderung wurde darin deutlich erweitert“, erläuterte Helena Scherer. Dazu gehöre zum Beispiel, Beeinträchtigungen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Hindernisse zu sehen. Die Konvention verdeutliche zudem, dass Menschen unabhängig vom Grad ihrer Behinderung einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Mit ihrem „Weltaktionsprogramm zur Herstellung von Chancengleichheit“ fordere die UN-Konvention bei allen Gesetzgebungen und Planungen, sozialen Überlegungen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die Belange von Menschen mit Behinderungen einzubeziehen. Inklusion, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung gehören nach der UN-Konvention zu wesentlichen Zielen. Aufgabe der einzelnen Staaten sei es, die nötigen Infrastrukturen und Gesetze bzw. Gesetzesänderungen zu Verwirklichung zu schaffen. Helena Scherer: „In Deutschland sieht die Bundesregierung allerdings keine Notwendigkeit für Gesetzesänderungen.“ Die bestehenden Gesetze würden für ausreichend erachtet, Handlungsbedarf sehe man nur bei der Barrierefreiheit.

„Aus behindertenpolitischer Sicht gibt es aber noch reichlich Handlungsbedarf“, betonte Helena Scherer. Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben sei durch die vielen Sondereinrichtungen (Heime) nicht ausreichend umgesetzt. Ebenfalls gebe es nur sehr wenige integrative Bildungseinrichtungen, Sonderformen überwiegten. Fazit: Der zu beschreitende Weg sei mit der UN-Konvention vorgegeben, zur Umsetzung bedürfe es aber noch erheblicher Anstrengungen auf allen politischen Ebenen.

Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe

Was bedeutet inklusive Leistungsgestaltung? Das war einer der Hauptaspekte im Vortrag von Claudia Zinke, Referentin für Gesundheitspflege und Behindertenhilfe beim Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband. „Gleiche Lebensqualität und gleiche Standards bedeuten nicht automatisch identische Leistungen“, hob die Referentin hervor. Die Anforderungen lägen vielmehr in der Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe. Leistungen müssten zum einen der individuellen Lebenssituation und dem individuellen Bedarf von Menschen mit Behinderungen angepasst werden und zum anderen den jeweiligen Lebensraum (Sozialraum) im Blick haben (so genanntes 2-Ebenen-Prinzip): „Inklusive Leistungserbringung bedeutet die Moderation, Begleitung und Unterstützung bezogen auf den Menschen in seinem Sozialraum und bezogen auf den Sozialraum selbst.“ Haltungsänderungen der Leistungserbringer seien daher unabdingbar, Inklusion funktioniere nicht ohne neue Konzepte zur Teilhabe. Claudia Zinke: „Zentrales Ziel ist die "Befähigung zur Planung und zur Entscheidung". Menschen mit Behinderungen sind in die Lage zu versetzen Probleme zu formulieren, Informationen zu beschaffen, zu interpretieren, zu bewerten und auszuwählen und auf dieser Basis eine Entscheidung zu treffen und die Verantwortung dafür zu übernehmen.“

Außerdem skizzierte Claudia Zinke die Vorstellung ihres Verbandes für inklusive Bildung. Erster Schritt sei eine Qualitätsoffensive an Regelschulen, dabei könnten die vorhandenen Kompetenzen der sonderpädagogischen Einrichtungen gut genutzt werden und fungierten gewissermaßen als Kompetenzzentrum für inklusive Regelschulen. Auf lange Sicht könnten Förderschulen und allgemeine Schulen in inklusive Regelschulen überführt werden.

„Mutter-Eva-Innovationspreis“

Menschen mit und ohne Behinderungen als Nachbarn. Zu diesem Thema stellte Kunsttherapeut Gerald Auler sein Projekt „Art goes Nachbarschaft – unsere Kunst im Kiez“ vor, bei dem Geschäfte, Lokale oder auch Arztpraxen zu kleinen Galerien für Werke der Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Tiele-Winckler-Haus werden (wir berichteten mehrfach ausführlich in diesem Heft). Anschaulich verdeutlichte ein Projekt-Film, wie sich dadurch ganz neue Kontakte entwickeln und etwaige Berührungsängste abgebaut werden. Für Umsetzung und Idee von „Art goes Nachbarschaft“ zeichnete Pfr. Leonhard Gronbach Initiator Gerald Auler stellvertretend für alle Beteiligten mit dem neu geschaffenen „Mutter-Eva-Innovationspreis“ aus.

Inklusion im Bereich der offenen Jugendarbeit stellte Lisa Reimann, Vorstandsmitglied von „Integrationsprojekt e.V.“ im Bund Deutscher PfadfinderInnen vor. Seit 1993 gibt es dieses Projekt in Berlin-Kreuzberg als Ort sozialer Begegnung für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung. „Unser Angebot ist immer für alle Besucher konzipiert, unabhängig von Herkunft oder Behinderung“, betonte die Referentin. Offen, kreativ und integrativ sind dabei die Schlagworte. Dem Aspekt der Freizeit komme gerade für Menschen mit Behinderungen eine besondere Bedeutung zu, so Lisa Reimann: „Freizeit wird oft als Förderziel verstanden, aber auch Menschen mit Behinderungen haben das Recht, einfach mal ,abzuhängen’!“<link typo3>

Vision einer Schule für alle

Inklusion im Bereich der Bildung war das Thema von Jörg Wartenberg, Schulleiter der Tiele-Winckler-Schule für Erziehungshilfe in Öhringen. Er beleuchtete dabei zunächst die Schullandschaft und die aktuelle politische Diskussion um Förderschulen. Wartenberg stellt dann die Möglichkeiten dar, die seine Schule als inklusive Schule biete. „Der Umgang mit Vielfalt und Besonderheit ist Hauptbestandteil unserer pädagogischen Arbeit“. Dies zeige sich zum Beispiel daran, dass es nicht eine einzige homogene Lerngruppe gebe. Binnendifferenzierung, Individualisierung und Zieldifferenzierter Unterricht müssten dem Rechnung tragen. Hierzu verdeutlichte er einige der differenzierten Angebote an der Tiele-Winckler-Schule wie Frühförderung, Diagnoseklassen, ausgelagerte Klassen und die Klasse für Jugendliche mit psychischen Erkrankungen. Als mögliche Zukunftsszenarien skizzierte er Kooperstions- und Öffnungsmöglichkeiten in Richtung Regelschulsystem, Sonderpädagogische Kompetenzen an den Schnittstellen zur Regelschule zu vermitteln und sich letztlich mit überzeugenden pädagogischen Konzepten, hoher Qualität von Personal, Einrichtungen und Angeboten für alle Schüler zu öffnen.

Das EU-Förderprojekt Inklusion durch Enkulturation (kurz VisioN), das die Region Nord der Evang. Jugendhilfe Friedenshort GmbH als Kooperationspartner des Landkreises Harburg betreut, stellte Regionalleiter Ronald Mann vor (vgl.<link http: www.friedenshort.de typo3 external-link-new-window external link in new>Opens external link in new window früheren ausführlichen Bericht auf dieser Webseite).

Mit den Berichten aus den einzelnen Arbeitsfeldern und Regionen endete traditionelle die Leitungstagung, besonderer Dank der Geschäftsführung galt allen Referentinnen und Referenten sowie den an der Vorbereitung und Durchführung beteiligten Mitarbeitenden.

Links

<link http: www.integrationsprojekt.org index menuid external-link-new-window>Opens external link in new windowIntegrationsprojekt in Berlin-Kreuzberg

<link internal-link>Opens internal link in current windowTiele-Winckler-Schule für Erziehungshilfe

Downloads

<link fileadmin bilder aktuelles ueberregional download file>Initiates file downloadInklusion als Herausforderung an Schule, Behinderten- und Jugendhilfe. Vortrag von Claudia Zinke, DPWV (ppt-Datei)

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