Mit Kindern über Kinderrechte reden

Erstellt von Barbara Stiels, Jugendamtsleiterin Landkreis Harburg |

Die Einrichtung Tostedt der Evangelischen Jugendhilfe Friedenshort entwickelt Richtschnur für Kinderrechte - Gelungene Großgruppendiskussion im Februar

Tostedt. Als Leiterin der Abteilung Jugend und Familie (Jugendamtsleiterin) des Landkreises Harburg habe ich mich entschlossen, im Rahmen der Gesamtverantwortung des Projekts zur Umset­zung der EU-Richtlinie „Inklusion durch Enkulturation“ – kurz „VisioN“ – zu beteiligen. Die besondere Chance dieses Projektes liegt darin, dass sie es ermöglicht, im Rahmen der Ju­gendberufshilfe mit Institutionen bereits ab dem Kindergartenalter zu den UN-Kinderrechten arbeiten zu können. Da auch der Vernetzungsgedanke eine wesentliche Rolle spielt, freue ich mich, dass Herr Mann, der als Regionalleiter Nord und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft nach § 78 SGB VIII als Stimmberechtigter im Jugendhilfeausschuss vertreten ist, sich bereit erklärt hat, mit mir zusammen das Projekt für den gesamten Landkreis zu schultern.

Umso mehr freut es mich, dass sich die Einrichtung in Tostedt entschieden hat, als beteiligte Institution an VisoN teilzunehmen. Ihre Teilnahme hat zum Ziel, mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Einrichtung eine Verabredung zu den UN-Kinderrechten zu erarbeiten, die unterhalb des Leitbildes nachhaltig als Richtschnur in der Einrichtung etabliert werden soll.

Nach drei Treffen mit den Mitarbeiter/-innen der Einrichtung ist die Idee entstanden, die Kin­der und Jugendlichen in den Prozess einzubeziehen. Dies sollte mithilfe der bereits bewähr­ten Methode der Großgruppenarbeit geschehen. Viele Kinder und Jugendlichen wollten sich freiwillig an dieser Veranstaltung beteiligen, weshalb zwei Termine vereinbart wurden. Ein Treffen hat am 8. Februar 2010 stattgefunden.

Experiment mit nicht vorhersehbarem Ausgang

25 Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Alters waren anwesend. Sie kamen aus allen Leistungsbereichen der Einrichtung: vom ambulanten über den teilstationären bis hin zu den unterschiedlichen stationären Angeboten der Einrichtung. Es war ein wirkliches Experiment mit nicht vorhersehbarem Ausgang. Zum einen sollte ein Zusammenarbeiten der jungen Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit und der Verschiedenheit ihrer Charaktere in diesem Prozess möglichst konfliktfrei gestaltet werden. Zum anderen sollten die UN-Kinderrechte auch inhaltlich besprochen werden.

Die Steuerung dieser beiden Ebenen stellte eine große Herausforderung dar, zumal wir Pro­zessverantwortlichen auf die Gruppenzusammensetzung keinen Einfluss nehmen konnten und wollten, sondern diese lediglich vom „passenden Termin“ abhängig gemacht haben. Aus diesem Grunde hatte sich das Mitarbeiterteam von „VisioN“ entschlossen, Herrn Wilfried Reifarth, der über jahrzehntelange Erfahrungen in der Arbeit mit Großgruppenprozessen und als Referent in der Erwachsenenbildung verfügt, zur Begleitung dieses Prozesses zu gewin­nen.

Einigen der jüngeren Kinder fiel es schwer, still zu sitzen und den anderen zuzuhören. Herr Reifarth schlug deshalb vor, dass sich diese Kinder aus dem Kreis der älteren Jugendlichen einen „Bodyguard“ suchen sollten, der ihnen helfen solle, besser bei der Sache zu bleiben. Der Vorschlag wurde begeistert angenommen und erfolgreich umgesetzt.

Ergebnisse

Wir haben uns mit folgenden Kinderrechten beschäftigt:

  • Alle Kinder haben die gleichen Rechte. Kein Kind darf benachteiligt werden.

Die Kinder und Jugendlichen waren sich einig, dass es wichtig sei, dass alle Beteiligten bei der Gestaltung des Gruppenlebens und der Gruppenangebote gefragt werden. Dabei wer­den alle Vorschläge gesammelt und dann abgestimmt, was gemacht werden soll. Sie be­richteten, dass es hierfür in ihren Gruppen gut funktionierende Strukturen gäbe.

  • Kinder haben das Recht, gesund zu leben, Geborgenheit zu finden und keine Not zu lei­den.              

Die Kinder finden es wichtig, dass in ihrer Gegenwart nicht geraucht wird und sie in einer rauchfreien Umgebung leben können. Alle Kinder sollen das Recht haben, zum Arzt zu gehen, darüber aufgeklärt zu werden, wie es um ihre Gesundheit bestellt ist, und wie sie ggf. behandelt werden können.

  • Kinder sollen ausreichend zu essen bekommen und nicht verwahrlosen. Sie haben das Recht, bei ihren Eltern zu leben. Leben die Eltern nicht zusammen, haben Kinder das Recht, beide Elternteile regelmäßig zu treffen.

Das Jugendamt entscheide, welche Kinder nicht mehr bei ihren Eltern leben könnten. Das Jugendamt müsse die Eltern unterstützen und beraten, damit die Kinder wieder bei ihnen leben könnten.

Wenn Eltern z.B. Alkoholiker seien, brauchten sie Hilfe. Manchmal müssten Kinder geschützt werden, wenn die Eltern sich nicht um sie kümmerten. Ein Jugendlicher wies darauf hin, dass es wichtig sei, dass das dann auch geschehe, selbst wenn man es vielleicht nicht gut fände, von den Eltern getrennt zu werden.

  • Kinder haben das Recht, zu spielen, sich zu erholen und künstlerisch tätig zu sein.

Die Kinder und Jugendlichen berichteten, dass es wichtig sei, Geld für Hobbies zu haben, z.B. für den Musikunterricht oder den Besuch einer Kunstschule. Sie wünschten sich Unter­stützung, wenn das Geld nicht vorhanden ist.

Alltag durch viele feste Termine bestimmt

Sie möchten Zeit und Gelegenheit haben, sich auch alleine beschäftigen zu können. Sie be­richteten, dass ihr Alltag durch viele feste Termine (Ganztagsschule, Sport, Nachhilfe usw.) bestimmt sei und dass deshalb manchmal nicht genug Zeit für Verabredungen bleibe.

Unter Erholung verstehen die jungen Menschen:

  •                  Ausschlafen (nicht geweckt werden!)
  •                  Einen Tag mal ohne Eltern und Geschwister verbringen können
  •                  Einfach mal machen können, was man will, z.B. am PC spielen

Als stressig und anstrengend empfinden sie:

  •                  wenn jemand ohne zu fragen in ihr Zimmer geht, und am schlimmsten, wenn der sich da etwas was rausholt.
  •                  wenn jemand einfach etwas von ihren Sachen nimmt.
  •                  wenn die Mutter ihr Zimmer aufräumt und alles so wegpackt, dass sie es nicht mehr finden.
  •                  Ungerechtigkeit
  •                  wenn Schwächere gequält oder in Angst versetzt werden.
  • zu lernen und eine Ausbildung zu machen, die ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten entspricht.

Die Kinder und Jugendlichen wünschen sich, dass sie von ihren Eltern (und den Erwachse­nen) ermutigt werden. Es soll keinen Stress für schlechte Noten geben. Wichtig ist ausrei­chende Hilfe, um es besser hinzukriegen.

  • Kinder haben das Recht, bei allen Fragen, die sie betreffen, sich zu informieren, mitzu­bestimmen und zu sagen, was sie denken.

"Wichtig, dass Eltern immer wissen, wo ihre Kinder sind"

Ein Junge berichtete, dass es wichtig sei, dass Eltern immer wissen, wo ihre Kinder sind. Das dürfe auch das Jugendamt nicht anders machen.

Die Kinder und Jugendlichen berichteten, dass sie in der Einrichtung und ihren jeweiligen Gruppen bei allen sie betreffenden Fragen ausreichend informiert und gehört würden. Sie finden es wichtig, auch einen gewissen persönlichen Freiraum zu haben, sich z.B. mal ent­scheiden zu können, länger weg zu bleiben.

  • Kinder haben das Recht, dass ihr Privatleben und ihre Würde geachtet werden.

Die jungen Menschen berichteten, dass es schlimm finden, wenn ihre Privatsphäre gestört wird, indem einfach jemand in ihr Zimmer kommt. Dies beträfe weniger die Erwachsenen, sondern die Kinder und Jugendlichen untereinander. Sie wünschten sich, dass ihr Wunsch nach Ruhe und Rückzug respektiert wird.

Würde hat ihrer Meinung nach viel mit gegenseitigem Respekt zu tun. Dazu gehört es, sich nicht gegenseitig anzuschreien und auch Respekt vor Kleineren und Schwächeren zu haben.

Sie stellten fest, dass sie ihre Würde untereinander oft nicht achten, keinen Respekt vorein­ander haben. So empfanden es besonders die älteren Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Veranstaltung als respektlos, wenn die jüngeren Kinder unruhig waren und den anderen nicht zugehört haben. Ein Teilnehmer gab zu bedenken, dass sie andererseits durch dieses Verhalten einiger Kinder mehr über Respekt gelernt hätten, als wenn man das Thema nur abstrakt behandelt hätte.

"Schwer für die Erwachsenen, Einfluss auf den Umgang junger Menschen untereinander zu haben"

Die Jugendlichen waren der Meinung, dass es aus ihrer Sicht für die Erwachsenen sehr schwer sei, Einfluss auf den Umgang der jungen Menschen untereinander zu nehmen. Sie würdigten die diesbezüglichen Anstrengungen der Erwachsenen, waren sich aber sicher, dass sich jeder Mensch nur selbst Respekt verschaffen könne. Ein Teilnehmer berichtete, dass er Kampfsport gemacht habe, um sich verteidigen zu können. Dies würde ihm aber im Falle einer tätlichen Auseinandersetzung zum Nachteil gereichen, weil es rechtlich wie das Tragen einer Waffe ausgelegt werde.

Es entstand eine angeregte Diskussion der Frage, weshalb ein Mensch einen anderen Men­schen provoziert. Es wurde vermutet, dass manche sich stark fühlen, wenn sie provozieren, oder denken, Angriff sei die beste Verteidigung. Manche Jüngere provozierten die Älteren, weil sie sich sicher fühlen, dass diese ihnen nichts tun dürften.

Ein jüngerer Teilnehmer meinte, dass es schwer sei, Respekt vor Älteren und Erwachsenen zu haben, wenn diese sich selbst schlecht und respektlos benähmen, z.B. Kinder schlügen und beschimpften.

Unser Fazit

Wir können feststellen, dass die Kinder und Jugendlichen mit ihren Ergebnissen, Ideen und mitgeteilten Erkenntnissen ganz erheblich zum Gelingen unseres Vorhabens beigetragen haben, Regeln und Verabredungen für einen guten und gelingenden Umgang in der Ein­richtung zu implementieren. Eine im Projekt „Vision“ bereits häufig gemachte Erfahrung bestätigte sich auch dieses Mal: Es lohnt sich, die Betroffenen als Experten in eigener Sache anzusehen und zu befragen.

Ich bedanke mich sehr bei der Einrichtungsleitung und den Erwachsenen der Einrichtung, dass sie das Experiment mitgetragen und dafür gesorgt haben, dass die Teilnahme ermög­licht wurde. Manche Kinder und Jugendlichen mussten doch relativ weite Fahrtwege auf sich nehmen.

Insbesondere aber bedanke ich mich bei den Kindern und Jugendlichen für ihre engagierte Mitarbeit, ihre guten Ideen und Hinweise. Insbesondere dafür, dass sie die Geduld aufge­bracht haben, mit uns immerhin drei Stunden lang am Thema gearbeitet zu haben.

Mein Respekt gilt den Jüngeren, dass sie diese Zeit durchgehalten haben und sich immer wieder auf das Thema einlassen konnten. Die Älteren haben meine Anerkennung dafür, dass sie den Jüngeren gegenüber so respektvoll waren, die teilweise unruhigen Phasen mit uns gemeinsam ausgehalten und sich trotzdem intensiv mit uns ausgetauscht haben.

Die Kinder und Jugendlichen haben sich zum Teil direkt nach der Schule auf den Weg ge­macht und waren erst zum Abendessen wieder in ihrer Gruppe. Auch dafür haben sie meine Anerkennung. Einige Kinder und Jugendliche meldeten ihr Interesse an, an einer gemeinsamen Arbeits­gruppe mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Einrichtung teilzunehmen, in der die Umsetzung der Kinderrechte im Friedenshort weiter besprochen werden soll.

 

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