Ein Bild aus der Anfangszeit in den 1990er Jahren
Ein Bild aus der Anfangszeit in den 1990er Jahren
Beim inklusiven Kunstprojekt auf dem 1. Ökumenischen Kirchentag in Berlin 2003
Beim inklusiven Kunstprojekt auf dem 1. Ökumenischen Kirchentag in Berlin 2003
Mitwirkung am Biografie-Projekt „Menschen im Tiele-Winckler-Haus“ 2012
Mitwirkung am Biografie-Projekt „Menschen im Tiele-Winckler-Haus“ 2012
Bei einem Sommerfest in der Mozartstr. 21-22 mit Bernd Schumann
Bei einem Sommerfest in der Mozartstr. 21-22 mit Bernd Schumann
Viele persönliche Worte gab es während der Abschiedsfeier
Viele persönliche Worte gab es während der Abschiedsfeier
Gemeinsames Foto zum Abschied
Gemeinsames Foto zum Abschied

Mein Friedenshort: Interview mit Susanne Bürkle

Erstellt von Henning Siebel |

Rund 30 Jahre war Susanne Bürkle als Leiterin des Betreuten Einzelwohnens für die Tiele-Winckler-Haus GmbH tätig, sozusagen „Mitarbeiterin der ersten Stunde“ in diesem Arbeitsfeld. Seit Oktober 2023 ist sie im Ruhestand. Im Interview mit Henning Siebel blickt sie zurück.

Wie sind Sie zum Tiele-Winckler-Haus gekommen?

Nach meinem Studium habe ich zunächst beim Bezirksamt Tiergarten im Sozialen Dienst gearbeitet, danach in einer Beratungsstelle in Kreuzberg. Da ging es um ganz unterschiedliche Lebenslagen, wir hatten auch eine Psychologin und einen Anwalt im Team. Letztlich habe ich davon mein ganzes Berufsleben lang profitiert. Leider wurde die Beratungsstelle Ende 1991 geschlossen, ich habe dann zunächst eine ökotechnische Fortbildung gemacht, bin also aus dem sozialen Bereich rausgegangen. Ich habe angefangen Landschaftsplanung zu studieren und suchte parallel eine Aushilfstätigkeit in der Sozialen Arbeit. Hierbei stieß ich auf eine Anzeige des Tiele-Winckler-Hauses, welches mir damals noch völlig unbekannt war. Birgit Lyongrün, seinerzeit Leiterin des Hauses Handjerystraße, lud mich zum Vorstellungsgespräch ein. Es stellte sich heraus, dass wir quasi Nachbarinnen waren und sie mich schon oft mit meinem schwarzen Schäferhundmischling auf der Straße gesehen hat (lacht), ich kannte sie aber nicht.

War diese Stelle schon direkt fürs Betreute Einzelwohnen?

Ja, genau, als Einzelfallhilfe mit 10 Wochenstunden. Ingrid G. war damals die erste Klientin im BEW. Zu der Zeit hätte ich noch nicht gedacht, dass diese Tätigkeit mal mein „Lebensjob“ werden würde … Irgendwann hat mich die langjährige Regionalleiterin Helena Scherer angerufen und gemeint, es gebe noch weitere Bewerbungen von Menschen für das BEW. Heidemarie und Peter waren ein Paar, welches zudem dringend eine Wohnung benötigte. Und ja, es hat mich gewissermaßen gepackt, nun mit Wegbereiterin für ein selbständiges Leben zu sein. Vor 30 Jahren war es halt noch so, dass Menschen mit Behinderung, vor allem geistiger Behinderung, sehr wenig zugetraut wurde. Meiner Einstellung entsprach das nicht, im Gegenteil, mir ging es – auch für mich persönlich – immer darum, sich Ziele zu setzen und diese auch zu erreichen. Ich habe dieses Studium der Landschaftsplanung nach dem Vordiplom beendet, um mich ganz dem Betreuten Einzelwohnen zu widmen.

Wie ging es weiter?

Die ersten eineinhalb Jahre habe ich das allein gemacht, nur mit einer Urlaubsvertretung. Mein Büro war in meiner Wohnung. Aber der Bereich wuchs, genau wie insgesamt gesellschaftlich das Verständnis wuchs, dass Menschen mit geistiger oder Lernbehinderung Anspruch auf ein eigenständiges Leben haben. Das hat Frau Scherer auch sehr forciert, die absolut Verfechterin dieser Linie war. Unsere Arbeit hat sich herumgesprochen, zumal wir uns oft um Menschen gekümmert haben, bei denen es hieß, so etwas wie Eigenständigkeit wird nicht klappen. Aber wir haben das trotzdem versucht! Ich würde sagen, dieser Ansatz ist zu einem Markenzeichen des BEW im Tiele-Winckler-Haus geworden und bis heute so geblieben. Bernd Schumann war dann der erste fest angestellte Mitarbeiter und er ist ja bis heute im Team geblieben. Das Vorstellungsgespräch fand in meiner Küche statt, genau wie die Teamsitzungen, als nach und nach noch weitere Mitarbeitende dazu kamen. Als Treffpunkt mit den Klienten hatten wir zuerst Räume bei der Ev. Gemeinschaft Friedenau, zu der es einen guten Kontakt gibt. 1998 bekamen wir die dringend benötigten Büroräume in der Dickhardtstraße. Dort war es sehr beengt und ich war sehr froh, dass wir neue Räume in der Cherusker Straße beziehen konnten. Das ging über persönliche Kontakte und eigentlich waren die schon vergeben, aber ich glaube, wir waren dem Vermieter im Gespräch so sympathisch geworden, dass er sich für uns umentschieden hat (schmunzelt). Leider gab es einen Besitzerwechsel und wir wurden gekündigt, was sehr bitter war angesichts des Wohnungsmarktes in Berlin. Aber beim Spazierengehen mit dem Hund ergab sich ein netter Kontakt zu einer Frau, die uns die Räume in der Ebersstraße vermitteln konnte, ein echter Glücksfall.

Welche Menschen kommen denn zum BEW bzw. wer sucht das aus?

Ich würde sagen, das sind verschiedene Säulen. Zum einen Menschen, die sich von außen um eine Betreuung regelrecht bewerben, weil sie von uns gehört haben. Die zweite Säule sind Menschen, die in einem Wohnheim eigentlich fehl am Platze sind und nur durch die Umstände der damaligen Zeit dort gelandet sind. Da ist bzw. war es meine Aufgabe, sie auf dem Weg in die Eigenständigkeit zu begleiten, die Initiative ging also von uns aus. Das hat mir am meisten Freude gemacht und regelrecht erfüllt, weil ich erleben durfte, welche Veränderungen die Menschen noch einmal durchlaufen haben. Viele haben mit Anfang 50 Dinge regelrecht nachgeholt, wie das Eingehen einer Partnerschaft oder berufliche Veränderungen. Verändert hat sich übrigens auch die Haltung seitens der Diakonissen, die seinerzeit ja noch teils im Tiele-Winckler-Haus tätig waren. Mich hat zum Beispiel Sr. Brigitte Oelschläger sehr begeistert, die anfangs noch skeptisch war gegenüber diesem Weg, dann aber gemerkt hat, dass es funktioniert, und uns sehr unterstützt hat dabei.

Gibt es Menschen, die Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben sind?

Eigentlich habe ich alle sehr gemocht und viele haben wir ja bis zu ihrem Tod begleitet. Ein spezieller Fall war aber Herr H., der mit 16 aufgrund eines Tötungsdelikts in die Forensik kam und dann quasi 40 Jahre später begnadigt wurde, wir haben ihn mit Mitte 50 in die Betreuung bekommen. Er wollte unbedingt eine eigene Wohnung und ich habe gedacht, okay, irgendwie wird das klappen. Ich werde nie vergessen, welche Begeisterung er ausgestrahlt hat, als er seine erste eigene Wohnung aufschließen durfte. Leider bekam er später einen Schlaganfall und wir haben ihn und seine Partnerin später im Haus Erntekranz weiter betreut bis zu seinem Tod. Er gehört zu den Klienten, die mir wirklich ans Herz gewachsen sind. Meine Arbeitsauffassung war immer, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind und zu schauen, was sie aus ihrem Leben machen wollen, und dazu gewisse Hürden aus dem Weg zu räumen.

Gibt es Pläne für den Ruhestand?

Ja, es wird wohl eher ein bewegter Ruhestand sein (schmunzelt). Ich setze meine schon seit längerem bestehende ehrenamtliche Tätigkeit im Förderkreis Gedenkort T4 e.V. fort. Da geht es vor allem um geschichtliche und politische Bildung. Und die gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen liegt mir am Herzen. Denn sie sind leise, finden wenig Gehör. Es ist total wichtig, auch diese Selbstgewissheit zu vermitteln, ihre Anliegen vorzutragen und einzufordern. Ich bin jetzt auch im Vorstand vom Freundeskreis des Tiele-Winckler-Hauses und engagiere mich dort. Darüber hinaus habe ich hoffentlich mehr Zeit, um meine Hobbys zu pflegen. Ich reise gerne, lese gerne und ich schreibe auch selbst Geschichten. Was ich noch nicht geschafft habe, ist etwas Längeres zu schreiben, das habe ich mir jetzt fest vorgenommen. Außerdem gehe ich viel raus, was mit einem Hund ja ohnehin nicht ausbleibt. Und ich habe ein Pflegepferd und liebe das Reiten.

Vielen Dank für das Gespräch!


Die Betreuten und das Team des BEW haben für Susanne Bürkle zum Abschied ein Lied geschrieben. In unserem Friedenshortwerk-Magazin haben wir den Text abgedruckt. Sie können sich die Seiten als PDF-Datei unter dem folgenden Link herunterladen:

PDF: Interview und Abschiedslied für Frau Bürkle

 

 

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