Schwäbisch Hall. Komplex und herausfordernd, gleichsam wichtig und zukunftsweisend sowie noch mit etlichen Unsicherheiten behaftet – auf diese Kurzformel ließe sich das Leitthema »Inklusion« der Jahrestagung 2024 für Leitende Mitarbeitende der Stiftung Diakonissenhaus Friedenshort und ihrer beiden Tochtergesellschaften komprimieren. Aus Sicht der Wissenschaft, aus Sicht der Praxis und mit Informationen zum aktuellen Stand der politischen Umsetzung der SGB-VIII-Reform wurde referiert und angeregt diskutiert. Rund 65 Teilnehmende begrüßte der Friedenshort-Vorstand mit Pfrn. Ute Riegas-Chaikowski und Kaufm. Leiter Götz-Tilman Hadem hierzu am diesjährigen Tagungsort Schwäbisch Hall.
Den Auftakt bildete ein Vortrag von Prof. Dr. Birgit Behrisch (Kath. Hochschule für Sozialwesen Berlin) zum Thema „Inklusive Kindertagesbetreuung“. Dabei nahm die Referentin zunächst eine Abgrenzung der Begriffe Inklusion und Integration vor. Während Integration die Unterschiedlichkeit betone und somit die Anpassung einzelner an ein Mehrheitssystem, betrachte Inklusion Vielfalt und Heterogenität (Verschiedenheit) als grundlegend und selbstverständlich. „Hier geht es nicht um die Anpassung einzelner, sondern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen jedem Einzelnen Teilhabe ermöglichen“, verdeutlichte die Professorin. Eine inklusive Pädagogik bedeute, den Rahmen für ein selbstverständliches, wertschätzendes und gleichberechtigtes Miteinander unterschiedlicher Menschen zu ermöglichen, ohne diese Unterschiedlichkeit eigens zu thematisieren.
Im Verlauf ihres Vortrages führte Prof. Behrisch aus, welche Grundkompetenzen für inklusives pädagogisches Handeln in Kitas besonders bedeutsam seien. Dazu gehöre zum Beispiel, zu Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten eine Beziehung aufbauen zu können, Methoden anzuwenden, um die Teilhabe aller Kinder an Aktivitäten zu ermöglichen oder die Auswirkungen von Stigmatisierung und Diskriminierung auf die kindliche Entwicklung zu kennen. In ihrem Fazit formulierte die Professorin den Wunsch, dass sich eine kindorientierte Pädagogik so entwickeln sollte, diese grundständig als inklusive Pädagogik anzusehen: „Inklusion ist in diesem Sinn nicht etwas, was erst noch dazu kommen muss!“ In der anschließenden Diskussion im Plenum ging es um verschiedene Herausforderungen. „Im Alltag wird sich die Frage stellen, ob ich der Gruppe als Ganzes gerecht werde oder der Individualität der Kinder“, so Cordula Bächle-Walter, stv. Regionalleiterin der Region Süd. Prof. Behrisch warb dafür, mit der Umsetzung konzeptionell anzufangen und sich zu vernetzen, um von gegenseitigen Erfahrungen zu profitieren.
Der zweite Tag der Leitungstagung war der Reform des SGB VIII gewidmet. Dr. Björn Hagen, Vorsitzender des Evangelischen Erziehungsverbands (EREV), reflektierte dabei die aktuelle Entwicklung im Gesetzgebungsverfahren bis hin zum Referentenentwurf vom September 2024. Im Kern geht es darum, dass künftig die Jugendhilfe und somit auch die Jugendämter für alle jungen Menschen mit Hilfebedarf zuständig sein sollen, unabhängig von einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung. Bislang waren diese Leistungen der „Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen“ (amtliche Bezeichnung) unabhängig vom Alter im SGB IX geregelt mit Zuständigkeit der Sozialämter. „Ansatz der Reform ist eigentlich der Versuch, das Beste aus beiden Welten zu vereinen“, so Dr. Hagen. In seinen Ausführungen wurde jedoch deutlich, wie viele Klippen es in dem Verfahren noch gibt und welche Unklarheiten der momentane Referentenentwurf noch aufweist. So seien nach bisherigem Stand als Anspruchsgrundlage zwei Leistungskataloge in einem Paragrafen zusammengefasst. „Geklärt werden muss, wie diese Leistungskataloge dann im tatsächlichen Hilfeplanverfahren verknüpft werden“, verdeutlichte Dr. Hagen. Auch seien zahlreiche neue Begriffe aus dem SGB IX dazu gekommen, die für die Jugendhilfe noch nicht ausreichend definiert seien. Neben diesen Herausforderungen im Gesetzgebungsverfahren führte Dr. Hagen dem Plenum aber noch eine weitere Herausforderung vor Augen, nämlich Konkurrenzsituationen. Neue Träger, die sich bislang nur in der Eingliederungshilfe, aber noch nicht in der Jugendhilfe betätigt hätten, kämen als Leistungserbringer hinzu.
„Zeit nutzen, sich strategisch neu aufzustellen“
Der Referent warb dafür, sich bereits jetzt organisatorische Gedanken zu machen: „Welche inklusiven Leistungen können wir abdecken, wo wollen oder müssen wir das Leistungsspektrum erweitern? Was passt in unser Portfolio?“ Zu diesen Fragen entspann sich eine angeregte Diskussion. Mehrere Beiträge drehten sich um die mangelnde Planungssicherheit und die Tatsache, dass die Verhandlungspartner der öffentlichen Träger teils selbst noch mangelnde Kenntnisse aufwiesen. Dennoch plädierte Dr. Hagen dafür, jetzt die Zeit zu nutzen, sich in der Jugendhilfe strategisch neu aufzustellen: „Inklusion kann eine Transformationschance sein in der Kinder- und Jugendhilfe.“
Aus der Praxis berichteten Andrea Krumm-Tzoulas und Björn Körner (Leitungsteam der Einrichtung Siegen-Wittgenstein/Märkischer Kreis) über die Kooperation mit der Universität Siegen sowie den gut besuchten Fachtag Inklusion im Frühjahr (wir berichteten bereits ausführlich in Heft 1-24). Die mit Studierenden entwickelten Bausteine zu inklusiven Konzepten waren zudem Grundlage für Fragen, die im Plenum in Kleingruppen behandelt wurden. Das Verzahnen von Praxis und Wissenschaft im Inklusionsprojekt mit der Uni Siegen hat aus Sicht der beiden Referenten noch eine Reihe positiver Nebeneffekte: Reputation als innovativer Träger und somit attraktiver Arbeitgeber, Erhöhen des Bekanntheitsgrades, Ausbau der Netzwerkarbeit und das Begleiten wissenschaftlicher Abschlussarbeiten mit intensivem Kontakt zu Absolventen.
"Wie wollen Sie Inklusion leben"
„Von der Förderlogik zur Teilhabekultur“ – um einen notwendigen Perspektivwechsel in der Eingliederungshilfe ging es im Abschlussvortrag von Kai Beier (Diplom-Heilpädagoge und Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule Berlin). Der Referent startete mit einer Fragerunde im Plenum zum Begriff „Behinderung“ und skizzierte anschließend die historische Entwicklung in der Behindertenhilfe bis hin zur UN-Behindertenrechtskonvention. Danach ging Beier auf die durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) geforderte Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe ein. Als einige Kernpunkte nannte er die volle Beteiligung der Leistungsberechtigten an allen unterstützenden Maßnahmen sowie die Personenzentrierung inklusive Wunsch- und Wahlrecht. Einen wichtigen Ausblick gab Beier auf die noch nicht in Kraft getretene 4. Reformstufe des BTHG, die den Personenkreis der Leistungsberechtigten in der Eingliederung neu definiert. Zukünftig sollen die Leistungen aber letztlich auch der „Behinderungsbegriff“ selbst an so genannten ICF-Lebensbereichen ausgerichtet werden, der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“. Hierzu gehören unter anderem die Bereiche Mobilität, Lernen und Wissensanwendung, Kommunikation, Selbstversorgung und Häusliches Leben. Ähnlich wie bereits Dr. Hagen warb der Referent dafür, bereits jetzt inklusionsorientierte Veränderungsprozesse innerhalb der Organisation anzustoßen und zu verstetigen. „Wie wollen Sie Inklusion leben und welche Angebotsumgestaltung wollen Sie in Ihren Einrichtungen vornehmen?“, so eine seiner Fragen.
Abgerundet wurde die Tagung durch eigene Themen und Prozesse: unter anderem wichtige Bauprojekte, IT-Themen, ein neues internes Info-Portal sowie dem Qualitätsmanagement in der Eingliederungshilfe. Und natürlich ist die Jahrestagung immer ein Ort zum Austausch in der großen »Friedenshort-Familie«. Aus dem Leitungskreis verabschiedet wurden Axel Kuss (Heiligengrabe, Stellenwechsel) sowie Jörg Wartenberg (Tiele-Winckler-Schule, Ruhestand). „Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.“ Diesen Vers aus dem ersten Petrusbrief, Kap. 5 hatten Pfrn. Ute Riegas-Chaikowski und Oberin Sr. Christine Killies jeweils für den geistlichen Impuls an den beiden Tagen gewählt. Mut zu schöpfen in herausfordernden Zeiten, Halt zu finden bei multiplen Herausforderungen – hier sei es entlastend, Gott an der eigenen Seite zu wissen.