Öhringen/München. Zwar ist der Kinostart erst am 22. Januar 2026, doch im Rahmen seiner Premiere auf dem Dokumentarfilm-Festival in München (DOK.Fest, noch bis 18.5.25) sowie Sondervorstellungen in Öhringen und Leipzig (Deutscher Jugendhilfetag) war „Das fast normale Leben“ bereits zu sehen. Über zwei Jahre lang hat Regisseur und Kameramann Stefan Sick eine Mädchenwohngruppe der Evangelischen Jugendhilfe Friedenshort GmbH – Region Süd in Öhringen mit der Kamera begleitet (wir berichteten). 85 Drehtage und 300 Stunden Rohmaterial mündeten in einen Film von 135 Minuten Länge, der bereits für bewegte Rückmeldungen sorgt – und eine erste Auszeichnung bekommen hat. Beim Münchner Dokumentarfilm-Festival erhielten die Produzentinnen Ulla Lehmann und Andrea Roggon (AMA-Film) den VFF-Dokumentarfilm Produktionspreis 2025.
In der Jury-Begründung heißt es dazu: "Andrea Roggon und Ulla Lehmann haben sich auf diese Reise mit ungewissem Ausgang eingelassen, beträchtliche Eigenmittel von AMA-Film investiert und es Regisseur Stefan Sick ermöglicht, vier treffsicher ausgewählte Mädchen aus schwierigem familiärem Umfeld zwei Jahre lang in einer Jugendhilfe-Einrichtung zu begleiten. Im Alltag ihrer Wohngruppe, in Krisen- und Konfliktsituationen, in Hoffnung und Enttäuschung ist Sicks Kamera einfühlsam, dicht, aber immer respektvoll, lässt uns mitfühlen und mit hoffen, liest in den jungen Gesichtern und verdichtet »Das fast normale Leben« der Mädchen zu einem emotional berührenden Stück dokumentarischen Kinos."
Bei der Vorführung im Öhringer SCALA-Kino im Mai 2025 für Friedenshort-Mitarbeitende sowie geladene Gäste (unter anderem aus Jugendämtern) gab es ebenfalls einhelliges Lob für eine überaus authentische Vermittlung der Herausforderungen in einer intensivpädagogischen Wohngruppe. Jürgen Grajer, bis Ende letzten Jahres Regionalleiter der Region Süd und von Anbeginn Unterstützer des Filmprojekts, dankte stellvertretend dem Filmteam für die gelungene Produktion, aber auch dem Wohngruppenteam für die Bereitschaft, sich für einen so langen Zeitraum auf die Dreharbeiten einzulassen. Begeistert von der Umsetzung zeigten sich auch Pfrn. Ute Riegas-Chaikowski und Götz-Tilman Hadem als Friedenshort-Geschäftsführung. Eine Publikumsstimme fasste das vielstimmige Lob treffend zusammen: „Alle, die in der stationären Jugendhilfe arbeiten möchten, sollten unbedingt diesen Film sehen!“
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„Mich hat sehr berührt, diese Lebenswege eine Zeitlang begleitet zu haben“
Filmemacher Stefan Sick im Interview mit Henning Siebel (Leiter Unternehmenskommunikation Friedenshort)
Zum Einstieg würde mich interessieren: Wie bist du Dokumentarfilmer geworden?
Schon gegen Ende meiner Schulzeit entstand der Wunsch, etwas in Richtung Kamera zu machen. Und für mich war auch klar, nach dem Abitur nicht sofort zu studieren, sondern erstmal eine betriebliche Ausbildung anzustreben. Diese habe ich dann im Medienzentrum der Uni Mainz als Mediengestalter für Bild und Ton gemacht. Damit war ich zugleich schon dicht dran am universitären Betrieb. Weil dort der Studiengang Filmwissenschaften angeboten wird, entstand rasch der Kontakt zu Studierenden und darunter waren einige, die sich speziell mit Dokumentarfilmen beschäftigt haben und auch selbst Filme drehten. Das hat mich direkt sehr fasziniert und ich war als Praktikant und Tonassistent bei verschiedenen Projekten dabei.
Weil die Ausbildung eher technisch angelegt ist, wollte ich aber auf jeden Fall noch mehr in die Tiefe gehen und auch gestalterische Aspekte kennenlernen. Studienplätze im Filmbereich sind sehr begehrt, im dritten Anlauf hat das dann an der Filmakademie Ludwigsburg geklappt. Zunächst mit dem Schwerpunkt Schnitt/Montage. Währenddessen habe ich auch schon in verschiedenen Projekten für Fernsehen und Hörfunk mitgearbeitet. Aber eigentlich war die Kamera mein Herzenswunsch und ich habe gemerkt, dass es mich wirklich sehr zum selbst Filmen zieht. Ich bin zum Schwerpunkt Kamera gewechselt und habe als Studierender fast ausschließlich Dokumentarfilme gedreht. Gegen Ende des Studiums habe ich gemerkt, dass ich sehr gerne ein Projekt komplett selbst umsetzen und dafür auch Regie führen möchte. So ist dann als erstes Regie-Projekt „Das innere Leuchten“ entstanden, gedreht in einem Pflegeheim für Menschen mit Demenz. Der neue Film ist also mein zweites Projekt als Regisseur und Kameramann, zwischendurch gab es für mich aber auch etliche reine Kameraprojekte.
„Das fast normale Leben“ ist thematisch erneut der Bereich soziale Arbeit und wie bei deinem ersten eigenen Film wieder komplett unkommentiert. Ist das gewissermaßen kennzeichnend für den Regisseur Stefan Sick?
Es ist wichtig, zwischen journalistischen Formaten und künstlerischen Formaten, also Kino-Dokumentarfilmen, zu unterscheiden. Beim Kino-Dokumentarfilm geht es für mich erstmal darum, Fragen zu stellen, zu forschen und zu beobachten, weniger darum, einzuordnen und Antworten zu liefern wie bei journalistischen Formaten - die natürlich auch ihre Berechtigung haben! Beim aktuellen Film hat mich interessiert, in einen Bereich hineinschauen zu dürfen, der einem normalerweise verschlossen bleibt. Auslösender Moment für das Thema Jugendhilfe und Wohngruppe war eigentlich meine Partnerin, da sie selbst in diesem Bereich arbeitet und natürlich immer mal wieder davon berichtet hat. Das klang alles spannend, war von der eigenen Realität zugleich weit entfernt, zumal wir zu dem Zeitpunkt auch noch keine eigenen Kinder hatten.
Mich hat jedenfalls die Frage bewegt, wie kann ein gutes Miteinander auch in herausfordernden Situationen gelingen? Wie ist das Leben in einer intensivpädagogischen Wohngruppe? Mir ging es nicht darum, selbst Experte zu werden, sondern diese spannenden Fragen im Alltag zu sehen, in diese Welt einzutauchen und die jungen Menschen zu zeigen, die in diesem Umfeld betreut werden, sowie die Menschen, die dort arbeiten. Beide Aspekte sind es Wert, um sie einem größeren Publikum authentisch zugänglich zu machen! Authentisch heißt, es wird nichts beschönigt, es wird aber auch keine Schuld zugewiesen, was mir gerade auch besonders wichtig war mit Blick auf die Eltern, die zu sehen sind. Es ist ein sensibles Umfeld gewesen, dem wir als Team mit besonderem Respekt begegnet sind.
Wie ist die Wahl auf die Evangelische Jugendhilfe Friedenshort für das Filmprojekt gefallen?
Da gab es auch wieder einige Tipps für Einrichtungen durch meine Partnerin. Ausschlaggebend war aber letztlich die große Offenheit, die mir entgegengebracht worden ist. Das war von Anfang an so im Kontakt mit dem damaligen Regionalleiter Jürgen Grajer und auch den anderen Mitarbeitenden. Ich hatte das Gefühl, im Friedenshort hat man sofort verstanden, welche Art von Film ich machen will. Es war einfach stimmig für mich. Trotzdem hat der Auswahlprozess genau für die jetzt gezeigte Wohngruppe noch etwas gedauert, denn es gibt ja total viele Wohngruppen auf dem Cappelrain, dazu noch die ganzen Außenwohngruppen. Von Jürgen Grajer wurden mir verschiedene vorgeschlagen. Bei der Mädchenwohngruppe, die ja gerade zu einer solchen umstrukturiert wurde damals, war es auch die Offenheit, die ich sofort gespürt habe. Interesse an mir und dem Projekt und das Gefühl, diese Dreharbeiten auch selbst als Bereicherung zu empfinden.
Tja, und dann passiert einfach das Leben und man schaut, wie am Ende daraus ein Film wird [schmunzelt]. Ich betone es gerne: Nichts an dem Film ist geskriptet! [nichts inszeniert, kein Drehbuch, Anm. HS]. Aber wir haben auch gemeinsam entschieden, bestimmte Dinge nicht zu zeigen, wenn es zu dramatisch wurde. Es ist auch so sehr intensiv geworden! Klar war jedoch, dass nicht nur schöne Momente gezeigt werden, sondern gerade auch die schwierigen Situationen wichtig sind, um zu verstehen, welche Entwicklung die jungen Menschen genommen haben. Das finde ich nahezu unglaublich, wie sich das vollzogen hat. Meine Hochachtung gilt da wirklich den pädagogischen Mitarbeitenden. Es ging überhaupt nicht darum zu zeigen, ob einzelne Entscheidungen gut oder weniger gut sind, da dürfen auch Fragezeichen stehen bleiben. Sondern wirklich um das Gesamtbild der Entwicklung innerhalb dieses Drehzeitraums von über zwei Jahren.
Was sind für dich die wichtigsten persönlichen Eindrücke im Rückblick auf die Dreharbeiten?
Oh, da gibt es etliche. Also zunächst war ich wirklich überrascht über die Struktur, die in der Wohngruppe gelebt wurde mit festen Regeln, und auch über die Ruhe, mit der die Mitarbeitenden vorgegangen sind. Mit Ruhe, aber auch mit notwendiger Konsequenz. Ich habe aber gemerkt, dass genau diese Struktur den jungen Menschen ungemein geholfen hat. Da mussten die Mitarbeitenden natürlich sehr beharrlich sein, was ich bewundert habe. Denn logischerweise gab es dafür ordentlich Gegenwind [schmunzelt]. Beeindruckt war ich auch mit welcher Herzlichkeit, Körperkontakt und Wärme die Mitarbeiterinnen den Kindern begegnet sind, trotz einer wirklich oft herausfordernden Beziehung. Aber Nähe und Geborgenheit zu vermitteln, die jungen Menschen wirklich aufzufangen, die nun nicht bei den Eltern leben, das ist mir sehr deutlich geworden.
Die Mädchen selbst haben mich auch sehr beeindruckt. Es gab für viele in dem Zeitraum persönliche, auch dramatische Wendungen der privaten Situation. Dennoch hatten sie eine unglaubliche Kraft und den großen Willen, für das eigene Leben einzustehen. Zum Beispiel hat mich bei Lena, einer der Protagonistinnen, fasziniert, wie sie nicht nur für sich selbst einsteht, sondern auch von den Erwachsenen Dinge einfordert, es genau formuliert, was sie sich für sich wünscht! Mich hat sehr berührt, diese Lebenswege eine Zeitlang begleitet zu haben. Ich habe gemerkt, dass die Kinder und Jugendlichen gespürt haben, dass ich ihnen mit Wertschätzung begegne und sie und ihre Anliegen ernst nehme.
Beeindruckt haben mich aber auch die Eltern, weil sie eine große Bereitschaft gezeigt haben, eigene Schwächen zu erkennen, an sich zu arbeiten und diese gute Unterstützung anzunehmen. Auch die Eltern verfolgen das Ziel, dass die Kinder irgendwann in die Familie zurückkehren können. Für die Bereitschaft, dies öffentlich zeigen zu dürfen, gilt daher auch den Eltern mein großer Respekt!
Vielen Dank für das interessante Gespräch!
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