Das "Blaue Kamel" wehrt sich - 6.000 Menschen mit und ohne Behinderungen demonstrieren gegen Etatkürzungen

Erstellt von H.Siebel |

Berlin. Minus 19 Prozent – was auf den ersten Blick als bloße Mathematik erscheint, entpuppt sich in Wirklichkeit als Politik des sozialen Kahlschlags. Um 19 Prozent will nämlich der Berliner Senat die Hilfen für behinderte Menschen in der Hauptstadt kürzen. Dagegen regte sich am 1. Oktober lautstarker Protest. Rund 6.000 Menschen folgten dem Aufruf des Aktionsbündnisses „Blaues Kamel“, einem Zusammenschluss von Trägern und Verbänden der Berliner Behindertenhilfe, und machten ihrem Unmut lautstark Luft. Das Motto: Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt. Vom „Roten Rathaus“ marschierte ein langer Tross von Menschen mit und ohne Behinderung zum Alexanderplatz zur Kundgebung. Mittendrin und unübersehbar demonstrierten Mitarbeiter und Bewohner der Einrichtungen des Tiele-Winckler-Hauses eindrucksvoll zugespitzt, welche Folgen von massiven Hilfe-Kürzungen zu erwarten sind: Ruhig stellen, statt betreuen – da bäumt sich jemand in seinem Krankenbett auf, möchte heraus, wird niedergedrückt… - und schließlich siegt die Wirkung der Spritze. Bleibt also zukünftig nur noch das „Satt-und-Sauber-Prinzip“? „Wir wollen, dass alle unsere Förderstätten erhalten bleiben“, bringt es Helena Scherer als Leiterin der Behindertenarbeit der Tiele-Winckler-Haus GmbH auf den Punkt. Und: „Angeblich sollen die Standards laut Senat nicht gesenkt werden.“ Dies muss wohl mit Blick auf die Kürzung von rund einem Fünftel des Etats mit einem dicken Fragezeichen versehen werden. Zumal aus dem Senat signalisiert wurde, man müsse über Inhalte reden… In Berlin leben rund 5.000 behinderte Menschen in betreuten Wohnprojekten, 6.000 Menschen arbeiten in Werkstätten, 1.700 Menschen leben in betreuten Wohnformen der ambulanten Psychiatrie. Nach Kalkulationen des „Blauen Kamels“ stehen 3.000 Arbeitsplätze auf dem Spiel, wenn die Sparmaßnahmen tatsächlich durchgezogen würden. „Die Kürzungen gehen eindeutig zu Lasten der Armen und Schwachen. Wir müssen eine Korrektur der sozialen Schieflage erreichen“, rief Oswald Menninger, Geschäftsführer des Berliner Paritätischen Wohlfahrtverbands, den Demonstranten zu. Er warnte vor einer einseitigen Haushaltspolitik nach dem Motto „Behinderte bezahlen die Ruine Berliner Bankgesellschaft“. Eindrucksvoll sein Zahlenbeispiel: Allein für Zinsen sehe der Haushaltsentwurf Ausgaben von 2,5 Mrd. Euro vor. „Das ist mehr als der gesamte Sozialetat“, verdeutlichte Menninger. Einige wenige Senatsmitglieder stellten sich den Demonstranten – und ernteten gellende Pfiffe. „Unsere Koalitionsvereinbarung sieht vor, soziale Belange soweit wie möglich zu berücksichtigen“, verteidigte Ingeborg Simon, gesundheitspolitische Sprecherin der PDS-Fraktion, den Haushaltsentwurf – und räumte Fehler ein: „Möglicherweise sind inhaltliche und menschliche Belange nicht ausreichend zum Zuge gekommen.“ Simon versprach, dass der Protest nicht ohne Folgen bleiben werde: „Wir nehmen den Auftrag mit, nach Alternativen zu suchen.“ Vielleicht hilft ja prominente Unterstützung. Regisseur Christoph Schlingensief, seit seinen „Freak-Stars“ Freund und Fan des Tiele-Winckler-Hauses, demonstrierte mit und zog das Medieninteresse auf sich.

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